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Buz Luhmann (wear sunscreens)

Ich(moi)/Ort der Identifikation

„Schatz, wann bist du soweit, … die Milonga beginnt in einer halben Stunde?“ „Nur noch einen Augenblick, ich schau grad´ noch im Spiegel, ob meine Schuhe zu meinem Kleid passen!“ 

Die drei Ichinstanzen, die hier wirken sind

  • das Ich (m), das sich im Spiegelbild erkennt, das das, was es sieht, für die hält, die es ist,
  • das Ideal-Ich (i(a)), als ein Ich, das sich mit einem Vor-Bild vergleicht, an dem es sein Bild von sich bemisst,
  • das Ich-Ideal (I(A)), als dasjenige, für das das Ich den Vergleich durchführt, dem es gerecht werden möchte, für das es „gut“ aussehen will, und das die Wahrheit über das Ich sagen kann, ein Urteil darüber spricht, ob und „dass Ich gut aussehe, eine gut aussehende Tanguera bin“ – Vielleicht ein innerer Standard des „Gut-Aussehens“, dem die eine („diese da“) oder anderen („jene, dort“) Tanguera zu entsprechen scheinen, im Vergleich zu denen ich nicht schlechter aussehen möchte … usw. Ein angestrebter Zustand mit einem guten Gefühl, möglichst ohne Angst und Neid.

(Quellen: 1)

Mein Körper, Ort der Tanda

„Das Ich ist vor allem ein körperliches“ (Freud, 1923), es ist ein „Haut-Ich“ (Anzieu, 1985), eine „Vorstellung von sich als Körper“ (Lacan, 1975/76).

Ein körperliches?

  • etwa in ver-stehen, ein-sehen, be-greifen, an-erkennen, ge-hören, ein-setzen, über-geben, ver-laut-baren, durch-setzen … (Die Sprache ist eine Haut)

Womöglich geht das auf eine bereits sehr lange, erstmals von schwangeren Frauen entwickelte Fähigkeit, sich den eigenen Körper vor-zu-stellen, ihn zu repräsentieren zurück (McDermott, 1996). 

Ich beherrsche meinen Körper. Ich kann schließlich Fahrradfahren, Brot mit einem Messer schneiden und Tango Argentino, Vals und Milonga tanzen.

Doch die Kluft zwischen dem sich selbst bewußten Empfinden des eigenen Körpers während der ersten Tangoübungsstunde und der Vorstellung von sich Selbst als Tanguero – als Identifikation mit dem Bild des richtigen Tangotänzers  (nach Belieben mit einem beliebigen anderen, positiv konotierten Adjektiv versehen) – ist erheblich.

Der Körper ist zu aller erst ein zerstückelter. Die Beine stolpern, die Füsse stehen quer, die Schulter ist nicht gefügig, die abrazo cerrado (geschlossene Umarmung) eine Farce, der Fussnagel der Frau zuweilen auch blutig.

Üben-Üben-Üben, bis die Vorstellung des Körpers als einzelne, nicht zueinander passende, sich nicht ordnende Körperpartien, zu einem Bild des „harmonischen“ Körpers wird und eine erste Figur gelingt, allein, gemeinsam, in der Umarmung.

Und die über-ein-Stimmung des sich vor-gestellten Bildes mit der empfundenen Körperlichkeit, dem stimmigen Hautgefühl, dem Bild von sich als harmonischer Körper, ist ungeheuerlich, erhebend, erlösend, euphorisierend.

So lange jedenfalls, bis wieder ein Stück Körperlichkeit aus dem Harmonischen herausfällt, etwa die Abrazo (Umarmung) in der Caminata (Gehen des Paares) gelingt, beim Enrosque (Verschrauben von Ober- oder Unterkörper) aber völlig versagt.

Diese Begeisterung des Gelingens, diese Harmonie mit dem Anderen des Tangos, die ist es, die einen Tanguero beim Tango Agentino hält und eine Tanguera immer wieder dort hingehen lässt – und wer dies nicht empfinden kann, der geht früher oder später, und verlässt die Milonga und die gesamte Szene – durchaus mit gelingenden Rationalisierungen.

Wo das körperliche Ich, der wahrgenommene Körper, die Vorstellung von sICH aber nicht so funktioniert, wie die Vorstellung davon, wie dieses Ich sein könnte oder sein sollte, dort, an dieser Stelle tritt der Riss, die Zerissenheit, die Kluft oder Spaltung des Ichs hervor, zwischen Mangel-an-Sein und Ideal-Sein, zwischen IST und SOLL wie man es heute sagt.

  • Die Schuhe, die nicht zum Kleid passen – weil dieser grünliche Schimmer an der Lasche nicht mit den bläulichen Pailletten des Kleides harmoniert, die dabei etwas zu matt wirken.
  • Das Gel im Haar, das leider doch nicht mehr zum dem fortgeschrittenen Haarausfall passt, und nun so verklebt, dass die auftretenden Lücken billig wirken.
  • Die vielen Schritte und Figuren, die einfach nicht gelingen wollen, und dass schon seit Jahren.
  • Der zu weit nach vorne gestreckte Kopf.
  • Die Falten am Hals, die ein offenes Kleid nicht länger erlauben.
  • Der Pfau, der nicht merkt, dass er seinen Ellenbogen spitz in die Luft hält.
  • Die Ballerina mit dem fast perfekt dezent abgespreizten kleinen Finger.
  • usw. usf.

Und an dieser Stelle entstehen die Affekte, quellen hervor, platzen oder machen Stimmung – überdecken Riss und Mangel – werden den Anderen gezeigt und vorgespielt oder vor den Anderen und oft auch vor sich verborgen – denn schließlich steht man doch da drüber, zeigt keine Schwäche usw. – spielt(-s-)eine Rolle! 

Doch andererseits: All diese Mängel, und noch mehr davon, sind zwar vor, während und nach der Milonga auffallend zu sehen und Gesprächsstoff – nur hier bei der Milonga, wie sonst kaum woanders, sind sie toleriert, geradezu Bestandteil des „Notwendig-Imperfekten des Tangos“.

Und ist dem nicht so, dann ist es keine Milonga, sondern „show“.


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Mein Körper, ein ge-bildeter Körper

An dem Ort des Körperlichen, wo ich mich so wahrnehme, dass es passt, da beherrsche ich meinen Körper, er funktioniert – und an dieser Stelle kann ich beginnen, ihn in der Tanda zu vergessen, da er als Instrument des Tango-Gefühls fungiert – als genau dafür geformt!

An diesem Ort ist der eigene Körper ein aus-ge-bildeter (am Ende klug gemachter), ein durch die Übungen und die Tangolehrenden – durch den Anderen – geformter, trainierter, zurechtgeschnittener, strukturierter und auch mortifizierter Körper.

Es ist ein Körper, den sich Tangueros und Tangueras aneignen – durchaus nicht alle, und zum Teil erst nach Jahren des Tangolebens -, den sie dann wieder verlassen und sich einen anderen aneignen – anders tanzen -, so lange, bis sie schließlich ihren Tangokörper selbst fort-bilden, sich eine Eigenheit, einen eigenen Stil zurückholen – durchaus gemeinsam mit einer erfahrenen Begleiterin oder einem Begleiter (aber auch das Geschlecht spielt hier nicht mehr die Rolle).

Wo ist dieser, „mein“ Körper, meiner, und wo Ergebnis der Einwirkung des Anderen, und von daher gesehen, ein meinen ür-sprünglichen, nicht tangofähigen Körper überschriebener Körper – wo beginnt die Fort-Bildung, weg von der Aus-Bildung, wo wird ein Lehrer zum Begleiter.

Ist mein Tangokörper Ort einer Illusion

  • Von mir falsch gedeutet; im Sinne einer falschen Interpretation und Beurteilung von tatsächlichen Sinneswahrnehmungen (im Unterschied zur Halluzination).
    • „Ich war das nicht, mein Arm ist in der richtigen Position, du zieht den immer nach unten!“
    • „Ich dachte immer, ich müsse mit den Schultern zuerst drehen und meine Hüfte erst nachziehen!“
    • „Immer wenn Du einen Schritt nach vorne machst, berühren zuerst deine Fussspitzen den Boden, statt deine Fersen!“ „Nee, echt nicht, ich mach dass nicht, dass spüre ich ganz anders!“

Ist er Ort einer Introjektion?

  • Eine Art körperlicher Einverleibung – Stück für Stück – der einzelnen, von den Tanzlehrern vorgeführten Schritten und Figuren.
    • Lesen Sie als Anfänger die acht Schritte zum Paso Basico (etwa auf Wikibooks) und sie werden sehen, dass Sie das Ganze sehen, in seinen Bestandteilen vorgeführt bekommen müssen, um es auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können.
    • Es ist ein Lernen in kleinen „Häppchen“.

Ist er Ort einer Identifikation?

  • Ein „das Selbe machen“ oder Nachmachen der Schritte des Anderen, da man sich mit diesem „gleichsetzt“, sich ihr zugehörig fühlt, seine Lehrer irgendwie liebt – wie sich selbst – imperfekt.
    • „Jetzt, wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es so, als ob ich intuitiv erfasste, was Francie da macht, ich schaue mir das ganze Bild an, die gesamte Körperhaltung in der Drehung!“
    • „Es ist wie ein automatischer innerer Nachvollzug, der das, was du da siehst, begleitet – und dann setzt du es einfach um – naja, zumindest die einzelne Figur während der Practica – die Milonga ist dann nochmal was ganz anderes!“

Ist er Ort einer Interpretation?

  • Eine „Auslegung“ und „Übersetzung“ dessen, was man an Schrittabfolgen, Figuren und Haltungen verstanden hat, was man als nachvollziehbar anerkennt, und auch be-spricht, be-deutet und be-greift.
    • „Was dir dein Lehrer zeigt, ist eher ein Angebot als eine Vorlage. Ich kann es nicht mehr nachmachen, so wie früher. Ich bin da zu eigen geworden!“
    • „Wir reden viel mehr über die einzelnen Figuren und Schritte, als darüber, wie wir sie tatsächlich tanzen. Du begreifst was du tust, indem du darüber redest und wenn´s klar ist, dann setzt du das in deiner eigenen Art einfach um!“

Ist er Ort einer Inkarnation?

  • Eine „Verkörperung“ oder „Verleiblichung“ des Seelischen. Eine Art „creatio ex nihilio“ wie Lacan sagen würde.
    • „Keine Ahnung, was da passiert!“
    • „Es kommt aus mir heraus, es drängt, ich mach da irgendwie mein Ding!“

(Quellen: 1)

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Mein Tangokörper, eine Wirkung/Einwirkung des a(A)nderen!

Wer, vielleicht Was, ist das, mit dem ich da Tango tanze, den Tango erlerne?

  • Für mich in der Rolle des Tangueros ist es eine Tanguera!
  • Für mich in der Rolle der Tanguera ist es ein Tanguero!
  • Für mich als TangoschülerIn ist es ein/e TangolehrerIn!

Kommt dem Geschlecht wirklich die differenzierende Rolle zu?

  • Für das Tanguer in mir ist es das Tanguer im Anderen

Was ist das für eine Tanguera, wenn ich als Tanguero die Rolle der Tanguera übernehmen kann, und das wiederholt, von Tanda zu Tanda und während der Tanda?

Ist das Andere des Anderen wirklich das Andere, wenn ich beide Rollen begehren kann, in je anderen Rollen ein führendes und ein folgendes Begehren leben kann, den Mann im Tanguero als Mann in einer Tanguera-Position anerkennen kann und umgekehrt – wie man und jemand es eben will – eben quer (schräg, verrückt, verquer), oder queer – je nach meiner Geneigtheit, oder im Queer-Tango.

Die Positionen, in denen ein Tanguer sich äußert, zu erkennen gibt, ausdrückt, sind komplex.

Ich kann mich in verschiedene (a)ndere kleiden; ähnlich des kleinen (a)nderen sein, sein Spiegelbild als Ebenbild oder ähnlich des (a)nders-Seins, komplementär, unähnlich – dennoch anscheinend passend, da eben nur anders und nichts Anderes – es ist imaginär.

  • Was im Tango geschieht, wenn es keine festgelegten Rollen gib? Man sieht den „Schein des Tangos“! (Hinter dem es übrigens durchaus ein „Sein des Tangos“ geben soll!)
  • Vielleicht gibt es die festgelegten Tango-Regeln und Tango-Positionen, da es kein definitives Geschlechterverhältnis gibt.

Es gibt aber auch noch einen (A)nderen Tanguer. Hinter all dem Schein-Tango und wechselseitigem Spiegeln eines Tangobegehrens. Dieses persönliche Subjekt, das Einzigartige, das sich im Tango verkörpert.

Nur, sobald ich mich zeige, kann ich das nur im meiner jeweiligen Tango-Position – Ich muss es er-scheinen lassen – und schon ist es im Ähnlichen, in ein Bild verkleidet, das ein anderer Tanguer erkennen oder ebenso verkennen kann, schon stellt sich die Frage des so-tun-als-ob oder des Echt-Seins, des Lug und Trugs!

  • Und da sich ein Tanguero und eine Tanguera während der Milonga und der Tanda verstellen können, so zum Schein, tun als ob, um sich in der Milonga-Guppe den vielen kleinen (a)nderen ähnlich zu machen, oder, um dem Ideal des Tango Argentino zu entsprechen, oder, um sich von den anderen, den Vielen, zu unterscheiden und besonders anders zu sein – ausgerechnet darum, da es im Tango und der Milonga so sehr oft scheint, muss es auch das Wahre im Tango, der Tanguera und dem Tanguero geben – eine Wahrheit der Tanda!

Er-kennung und An-erkennung: Das persönliche Subjekt Tanguer findet etwas im (a)nderen und stolpert um es herum, dreht sich um das kleine, ähnliche Objekt, mit dem es ein Tangobegehren teilt. Und begleitend zu diesem Austausch von Freundlichkeit, Respekt und Rücksicht auf die Schritte und Figuren des jeweils anderen wird etwas im Ich angesprochen. Das jeweilige Begehren des Anderen verstummt und die Tanda beginnt beiden etwas zu sagen – ein Ernst, eine Andacht und Anmutung, die wahr ist, weil beide sie in sich erkennen, zu bewahren trachten – das Wahre im Tango – begleitet von einem Anderen Geniessen, S(Ⱥ)!

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(Quellen 1: Evans, D. (2002). Wörterbuch der Lacan´schen Psychoanalyse. Ich (S. 141), Identifikation (S. 143); andere/Andere (S.38), ähnlich/das Ähnliche (S. 34), Schein (S. 258), Spiegelbild (S. 276). Wien: Turia & Kant; https://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/ich-idealich-ichideal/; https://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/je-und-moi-im-aufsatz-ueber-das-spiegelstadium/; Freud, S. (1923). Das Ich und das Es, Studienausgabe Bd. III, S. 294; Anzieu, D. (1985): Das HautIch. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Lacan, J. (1975/1976). Le sinthome (deutsche Übersetzung, 2017, Wien: Turioa & Kant); Kühn, R. (2018). Der therapeutische Akt: Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive. Verlag Karl Alber; https://www.z-i-g.de/pdf/ZIG_2_2007_breckman.pdf; https://lacan-entziffern.de/todestrieb/zweiter-tod-und-zwischen-zwei-toden-in-lacans-seminar-ueber-die-ethik-der-psychoanalyse/; https://lacan-entziffern.de/unbewusstes/das-unbewusste-ist-der-diskurs-des-anderen/)

Tanguera oder „Die Schuhe, die nicht zum Kleid passen!“

Warum „dieser grünliche Schimmer an der Lasche nicht mit den bläulichen Pailletten des Kleides harmonieren, die dabei etwas zu matt wirken“.

Es dauert durchaus seine Zeit, bis wir, als Tangueros, feststellen, dass Sie, diese Tanguera, sich nicht so sehr für uns „schön macht“, sondern für das Andere.

Er ist geparkt; hängt seine Jacke wieder zurück auf den Kleiderständer, geht ins Wohnzimmer, setzt sich auf die Couch, nimmt sich ein Zeitschrift, blättert darin herum und denkt, „Jedes Mal dasselbe!“

Sie macht sich zurecht, putzt sich heraus und lässt dabei das Bild ihre Tanguera entstehen, artikuliert ihr Subjekt Tanguer!

  • Wie soll sie erscheinen, erstrahlen – welche Simulakren würde sie senden?

Wie können die Schuhe passend zum zum Kleid gemacht werden, wenn dieser grünliche Schimmer an der Lasche nicht mit den bläulichen Pailletten des Kleides harmoniert, die dabei etwas zu matt wirken.

  • Warum ist das so wichtig?

Und warum bedarf es einer „zündenden Idee“ eines „genialen Einfalls“, der das Bild vervollständigt und die Frau sich wohl in ihrer Haut fühlen, sich unter die Anderen wagen lässt?

  • Es muss bis zu so etwas wie einer inneren „jubilatorischen Geste“ der Verzückung gehen, würde Lacan sagen.

Und überhaupt, unter welche Anderen wagen, unter die Tangueros oder unter die anderen Tangueras?

Und bitte, selbst wenn sie oder irgend eine Andere auf Äußerlichkeiten nichts gibt, überhaupt nicht darauf achtet und es ihr „t-o-t-al egal ist“, es gibt immer ein Ding, das gegeben sein muss, damit sie das Haus verlässt, sich zeigt!

p.s. im obigen Fall war es „etwas Rotes im eher kognitiven Bereich“ – ein rotes T-Shirt, dessen V-Ausschnitt leicht über den U-Ausschnitt des Kleides ragte – ergo – „Es passt!“ – die Stimmung ist schlagartig hervorragend und „Schatz, wo bleibst du denn!“ 

  • „Und, wie seh´ ich aus?“ 

Natürlich hat er nichts bemerkt – „Kein Unterschied!“ („von wegen“, denkt sie sich)

Angenommen, rein hypothetisch, es war die Frau, prähistorisch, die als erste, und vor dem Mann, zu einer distanzierten, außenperspektivischen Wahrnehmung ihres körperlichen Selbst fähig war, zu einer Selbst-Repräsentation ihrer Körperoberfläche. Und angenommen, sie war dazu in der Lage, da sie etwas in sich vermutete, spürte – die Venus-Figurinen stellen meist schwangere Frauen dar -, dann ist die ganze Szene notwendig, um sich ein Bild von sich (prähistorisch von sich als schwangere Frau) zu machen, ein Körperbild – eine Fähigkeit, die den Menschen nicht biologisch gegeben ist, sondern die sie erst erworben haben, im Oberen Paläolithikum (McCoid & McDermott), und die Mütter vielleicht noch heute sehr früh an ihre Kinder – Jungen wie Mädchen (Traverthen) – weitergeben, da sie es sind, die in ihrem Neugeborenen etwas sehen/hinein-sehen, ein Ganzes in der Welt sein – und allein, da sie es sehen, voraus sehen, im voraus sehen, wird in dem Kind etwas werden, wird das Kind eine Innerlichkeit, ein moi und ein i(a) entwickeln – als geschenkt, als Be-gabung.

Der reale, biologische Körper und seine Oberfläche bekommen ein Kleid (und genau, natürlich auch passende Schuhe dazu) übergestülpt, ein für sich und andere sichtbares Bild, in einem gestützten Rahmen (der Wohnung, dem Mann auf der Couch), vor dem Hintergrund einer Vorstellung, einer Phantasie, wie es perfekt wäre, und in einer sich wiederholenden szenischen Aktion (vor der Milonga die passenden Schuhe, oder während der Milonga in der Garderobe das zurechtgerückte Kleid, oder vor jedem Spiegel, die blasen Lippen durch zusammendrücken etwas beleben).

  • Im Übrigen machen das auch die Tangueros, nur flüchtiger, verborgener, etwa beim Haare mit der Innenhand glätten, Lösen des obersten Hemdknopfes, desinteressiert drein schauen, betont langsamen gehen … 

Und dann sind sie da, auf der Milonga, mit ihren, in jedem Fall präparierten Körperbildern, Rollen, Darstellungsformen, und manchen Wirkung, Prestige, Eindruck.

  • Haben wir eine Wahl?

Selbst wenn wir uns nicht so oder so oder eben ganz anders darstellen würden – keine Sorge – die Anderen erledigen das schon für uns, schreiben uns eine Absicht, Wirkung, einen Ausdruck zu – und er-, im besten Fall, an-erkennen uns.

  • wir wollen zwar etwas für andere darstellen, aber die Anderen stellen uns ebenso dar oder führen uns vor, und machen mit uns, was sie wollen (und wenn auch nur in ihren Gedanken).

Aber weiter, weiter angenommen, rein hypothetisch, wenn wir das Bild unseres Körpers, 

  • so wie wir es uns vorstellen, es uns innerlich so repräsentieren, wie wir sein wollen, für ein Ideales-Ich,
  • so wie wir es sehen, da draußen (im Vergleich), bei den anderen (als Reaktion), bei uns im Spiegel, in Film und Fernsehen und der Literatur, Frauen- wie Männerliteratur von Kitsch bis zum dekonstruktivistischen Feminismus oder Postfeminismus, 
  • so wie wir es, bewußt und gezielt inszenieren, oder ohne es zu ahnen uns im Raum bewegen, auftreten, in Erscheinung treten,

was, wenn dieses Körper-Selbst-Bild, nicht für das jeweils andere Geschlecht inszeniert wird, sondern allen für die Andere, die Frau.

Was, wenn der Mann sich für die Tanguera attraktiv macht, und wenn sich die Frau ebenso, und allein für die Tanguera so herausputzt?

  • Was, wenn das sich bildende Körperbild, als Ideal-Ich, für beide Geschlechter letztlich eine Frau ist?

(Über die damit verbundene Kränkung des Mannes hinaus!)

Klar, der Tanguero tanzt die Tanda mit der Frau (technisch), aber eben auch für die Frau (emotional) und übernimmt die Führung, da sie ihn sich führen lässt (schließlich beginnt die Tanda erst, nachdem Sie zugestimmt hat).

Aber die Tanguera, tanzt sie für ihn (ihm zu Gefallen), mit ihm (als ihm technisch Folgende), oder für etwas, von dem er nichts weiß und was sie anstrebt, ohne zu wissen, was es sein könnte, wie sie dahin kommt, außer, dass sie nur dahin kommt als Geführte – und wenn es dann da ist, will sie nichts davon wissen – sondern es geniessen.

Über Jahrhunderte ist versucht worden, die Frau zu zähmen, ihre Rolle zu definieren, vorzuschreiben, angefangen

  • mit Lilith, der ersten Eva, die schnellstens ersetzt wurde, durch die „richtige“ Eva (Hurwitz),
  • über Venus, Maria und Fatima (Rotter)

bis zu den heutigen Frauenbildern (die Medien sind voll davon).

Der Mann kommt mit der Frau nicht so gut klar, sitzt brav auf der Couch und wartet, sucht sie mit Blicken und wartet bis sie nickend zustimmt, bittet sie zum Tanz und gibt sich redlich Mühe, sie in der Tanda zu erfreuen – und zumindest beim Tango gibt es keine Alternative dazu, selbst wenn (es) sich einige Tangueros anders geben, von sich aufplustern bis zum sexuellen Übergriff – gewiss und besonders auch in der Welt außerhalb der Milonga.

Warum macht er sich dann für Sie so viel Umstände, und sie sich, für eine Andere, so adrett?

Rein hypothetisch, vielleicht,

  • weil er sich in ihr sieht, und sie etwas sucht, was (s-)„eine Frau“ sein ausmacht,
  • und weil er nur über sie auch dahin gelangen kann, von Ihr mitgenommen, in der Tanda.

Mit dem Tango ist es so eine Sache, ein Ding, wie Philosophen und Analytiker sagen.

Tango ist eben ein Symptom.

  • und die Frau ist das Symptom des Mannes, wie Lacan sagt.

und ebenso, irgendetwas an einer Frau ist das „Ding“ um das sich – nicht nur auf der Milonga oder während der Tanda „alles dreht“ (und wenn auch nur in tanguer Form: stampfend, schwankend, torkelnd und stolpernd).

„The Lacanian conclusion of the treatment – the identification with the Real of the symptom, the choice of jouissance and the creation of a neo-subject – is a particular process that is situated entirely in the line of femininity“ (Verhagele & Declerq, 2016)

(Quellen: 2)

(Quellen: Nasio, J-D. (2011). Der unbewusste Körper. Wien: Turia & Kant.; McDermott, L. (1996). Self-Representation in Upper Paleolithic Female Figurines. Current AnthropologyVolume 37(2), 227-275; https://www.researchgate.net/publication/249179303_Self-Representation_in_Upper_Paleolithic_Female_Figurines; McCoid, C., & McDermott, L. (1996). Toward Decolonizing Gender: Female Vision in the Upper Paleolithic. American Anthropologist, 98(2), new series, 319-326. http://eprints.bournemouth.ac.uk/32317/1/HIRST%2C%20Samuel%20Jonathan%20Harvey_M.Res._2019.pdf; Trevarthen C, Aitken KJ. Infant intersubjectivity: research, theory, and clinical applications. J Child Psychol Psychiatry. 2001 Jan;42(1):3-48; Pielow, D. (1998). Lilith und ihre Schwestern. Zur Dämonie des Weiblichen. Düsseldorf: Gruppe Verlag; Rotter, E. & G. (1996). Venus, Maria, Fatima: Wie die Lust zum Teufel ging. Zürich: Artemis & Winkler; Hurwitz, S. (2004). Lilith. Die erste Eva: Eine historische und psychologische Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen. Daimon; Verhaeghe, P. & Declercq, F. (2016). Lacan’s analytic goal : Le Sinthome or the feminine way. Perspectieven, 2016, 34, 4; https://biblio.ugent.be/publication/8513109/file/8513112.pdf)