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George Michael (Older)

$ – Das Subjekt/Tanguer

Tanguer (franz.): Stampfen, schwanken, torkeln, stolpern, sich um jemanden drehen. Von altgalizisch und altportugiesisch tanger, berühren (13. Jahrhundert, Cantigas de Santa Maria).

Tango (lat.): Berühren, anfassen, rühren, bewegen, ergreifen.

Subjekt (lat. subiectum ‚das Daruntergeworfene‘; griech. ὑποκείμενον hypokéimenon ‚das Zugrundeliegende‘) 

Der Begriff des Subjekts wird heutzutage in der Philosophie eingeschränkt auf das erkennende Ich bezogen/mit diesem gleichgesetzt.

Als Untertan oder Subjekt (lat. subicere „unterwerfen, unterordnen“) wurde vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert eine Person bezeichnet, die der Herrschaft eines anderen unterworfen ist. Untertanen sind nicht in vollem Umfang persönlich frei.

Das Subjekt in der Grammatik: Damit man aber überhaupt von einem Satz im grammatischen Sinne sprechen kann, sind zwei Satzglieder zwingend notwendig: Subjekt (der Handelnde) und Prädikat (die Handlung). Ergänzend tritt das Objekt hinzu, das etwas über das Ziel der jeweiligen Handlung aussagt.

Das Subjekt im philosophischen Sinne ist gerade nicht der/die/das Handelnde, sondern das dem Handeln zugrundeliegende, ihm unterworfene Subjekt (Subjekt ≠ Ich).

Folglich ist ein Tanguer – im ursprünglichen Sinne – gerade nicht das handelnde, den Tango tanzende Subjekt, der führende Tanguero, die folgende Tanguera, sondern das dem Tango tanzen Unterworfene, Zugrundeliegende, dass, was sich dem Tango aussetzt, sein Untertan.

Tanguer ist vielleicht der „state of forgetting“ des sich selbst bewussten, sich als Tango tanzend erkennenden Subjekts/des Egos.

(Quellen: 1)

Das lacanianische Subjekt Tanguer

Zunächst bezeichnet der Begriff in der lacanianischen Psychoanalyse nichts weiter als den „Menschen“, den „Analysanden“.

Es gibt zunächst allein das unpersönliche Subjekt, unabhängig vom Anderen.

  • Das „man“ von, „man tanzt dort miteinander Tango“, von „bei einer Milonga hat man ein anderes Gefühl als man es beim Salsa tanzen hat“

Oder das unpersönliche, grammatikalische Subjekt, dem ein Geschlecht angehangen ist. 

  • Das „man“ von, „man weiß, dass man nicht der beste Tanguero ist“, von „man nimmt dann die Rolle der Tanguera ein“.

Dann gibt es noch das anonyme, reziproke Subjekt, völlig gleichwertig mit und ersetzbar durch ein anderes, äquivalent mit diesem, das „jeder“

  • Das „jeder“ von, „nun, jeder kann das lernen“, „jeder ist ersetzbar, du tanzt mit jemanden und dann mit jemand anderem“, „ob sie mit mir oder mit irgendjemand tanzt, das ist zunächst einmal völlig gleichgültig“.

Und schließlich gibt es noch das persönliche Subjekt, „diesen Tanguer“, dieses „Individuum“, das sich gegen jedes „man“, „jemand“ und „jederman“, das es für einen Anderen sein könnte, behauptet, das nur dadurch besteht, dass es sich behauptet, und sich in seiner „einzig Artigkeit“ darstellt, als „in diesem Moment bin es eben ich, die mit ihm die Tanda tanzt, und nicht irgendeine!“.

Ein sich behauptendes Subjekt Tanguer

Ein Tanguer wird ein persönliches Subjekt erst, indem er/sie sich im Tango behauptet; vor, während und nach der Tanda.

Auf der Tanzfläche be-hauptet sich ein Tanguer durch einen Schritt.

Ein Tanguero behauptet seine Rolle als Führender durch seinen ersten Schritt, eine Tanguera, ihre Rolle als Folgende, durch ihren Schritt, als Reaktion auf diesen ersten und dann auf alle weiteren Schritte und Figuren. Im besten Fall beantwortet Sie dabei den führenden Schritt; was sie als Folgende zu einer „Anwesenden“, „Annehmenden“ und „Anerkennenden“, zuweilen einer „sich Anpassenden“ oder „Ihn Ausgleichenden“ oder aber in manchen Fällen auch zu einer „Ablehnenden“ oder „Abwesenden“ machen kann, wenn ihr Schritt keine Antwort hat/zu keiner Antwort findet. 

Ein Tanguer be-hauptet sich erst durch diese Anerkennung – und ist somit einem anderen Tanguer ausgesetzt und unterworfen.

Natürlich kann der Tanguero sich auch auf die Schritte der Folgenden im Voraus anpassen oder diese vorausahnen und so annahmen und anerkennend werden; und natürlich kann man so tun als ob„pretend to be“.

Und, natürlich, man kann die Rollen auch tauschen und hin und her wechseln.

Den Tanguero, die Tanguera gibt es, da es die Tanda und den Paso gibt. Erst hier erweist sich, was in ihm, in ihr steckt, was zwischen beiden möglich ist – ob es ein zugrundeliegendes Tanguer für beide gibt.

Ein Tanguer gibt es/sich in „geschlechtlichen Rollen“ zu erkennen, denn er „weiß, dass er ein Tanguero ist“ und folglich zeigt er sich auch so. Und sie, die weiß, dass sie eine Rolle als Tanguera einnimmt und sich entsprechend gibt, weis ebenso von den Konventionen normierter Geschlechtlichkeit.

Ausserhalb der Tanda, jenseits der Pista und des Paso, gibt es weiterhin den Tanguero und die Tanguera, aber es gibt kein Tanguer – er bleibt auf der Strecke – wohl aber gibt es eine Vorstellung, Erinnerung oder Phantasie vom gewesenen Geniessen auf dieser Strecke (der Pista).

Die getanzte Tanda erst bringt den Tanguer hervor, als „Die“ und als „Der“. Die Schritte bilden das, was als Tanguero und Tanguera auf der Piste in Erscheinung tritt. Der Schritt, jeder einzelne Schritt der Tanda, die gesamte Schrittabfolge, die Figuren der Tanda markieren sie und ihn. Der eine Schritt streicht dabei alle möglichen anderen Schritte, Schrittabfolgen und Figuren aus, und macht den zweiten Schritt frei, der wiederum alle anderen möglichen zweiten Schritte ausstreicht. Und so entsteht eine einzig-artige, persönliche Tanda, eine Tanda – die anerkannt und deren Anerkennung sich wiederholt, oder, die ablehnt und kein Wiederholen begehrt.

(Quellen: 2)

Ein Tanguer ist durch die Regeln der Milonga und der Tanda bestimmt

Zunächst einmal sind eine Tanguera und ein Tanguero Menschen, die nach den sozialen, musikalischen und technischen Regeln der Milonga, des Tango Agentino und der Tanda tanzen oder singen.

Ohne diese gäbe es sie nicht!

Erst diese Regeln schaffen den Tanguero und die Tanguera, sie sind deren A und O.

Es gibt aber wohl niemanden in der Tangoszene, der sich allein auf diese Regeln festlegen, sich allein durch diese definieren ließe.

Somit sind Tanguera und Tanguero mehr, sie sind „die Rolle, die man (Mann und Frau) in der Milonga und der Tanda übernimmt, das unpersönliche oder geschlechtliche und reziproke Subjekt (S) und dass, was dieses Subjekt an möglichen Arten und Formen des nicht-sagbaren, nichts-sagenden Geneissens hervorbringen und hervorrufen kann, und diese Rolle ausstreicht (/).

Das erworbene, angelernte, übernommene und konventionelle der Tanguera und des Tanguero und das, was der Tanguero und die Tanguera damit bezwecken, was sie begehren, sind zwei Dinge, zwei Orte, zwei Arten des Seins (sich-bewusst-sein / un-bewusst-sein).

Das $ symbolisiert einen begehrenden Tanguer

Freud:Wo ES warsoll ICH werden.“

Lacan: „Wo es war, da muss ich ins Sein kommen.“ ‚Wo es war, da soll ich entstehen.“

Ein Tanguer ist nicht diese Tanguera und auch nicht dieser Tanguero!

Ein Tanguer ist nicht etwas Anschauliches, nicht imaginär, kein Bild und auch keine Re-präsentation. 

Immer erscheint uns ein Tanguer als dieser oder als diese, immer stellt ein Tanguer sich so oder so dar, äußert es sich, ein Bild von sich, in dieser oder jener Form, immer gibt ein Tanguer (s-)einer Wunsch-Vorstellung, seinem Phantasma Ausdruck.

Folglich gibt es „Den Taguero“ garnicht, und folglich ist „Die Tanguera“ lediglich eine Illusion – ein, an die man glaubt, die etwas ver-spricht.

Gleichwohl muss jeder anerkennen, dass es den Tanguero, der sich als Miguel, Peter oder Joachim bezeichnet, gibt, und auch die vielen Tangueras mit ihren jeweiligen Eigennamen.

Jeder dieser Tanguera und Tangueros ist gespalten, etwa zwischen seinem Bedürfnis, diese Tanda mit Sabine tanzen zu wollen, seinem Anspruch und An-sprechen von Sabine im Cabeceo und der nicht- / Befriedigung durch die Annahme oder die Ablehnung in ihrer Mirada; gespalten zwischen Begehren und Anspruch und Befriedigung, Wunsch und Wirklichkeit, da-sein und so-sein.

Ein Tanguer (S) ist ein Begehren, das, sobald sich dieses Begehren in einem An-sprechen äußert, es als begehrendes Subjekt, als Tanguero mit Ansprüchen hervortritt. Und trifft dieses Begehren auf ein anderes Begehren, wird es von einem anderen, begehrenden Subjekt, einer Tanguera, angenommen oder angelehnt, dann verschwindet es (/), entweder, da es befriedigt ist oder un-befriedigt bleibt – und ein anderer Tanguer aufkommt, bestenfalls der, eine Umarmung begehrende.

Und jeder Tanguer ist ein begehrender! – Alle gehen zur Milonga weil sie ein Tangobegehren verspüren, oder?

Das leichte Kopfnicken in Cabaceo und Mirada ist Befriedigung, wenn es annehmend ist, und es ist etwaige Kränkungen und Verletzungen des begehrenden Subjekts lindernd, wenn es ein sanftes Zeichen der Ablehnung ist – „Puh, wie nett von Ihr!“

Das Subjekt Tanguer ist aber nicht allein durch das Begehren des Anderen bestimmt, dem es unterworfen ist, ein Tanguer ist auch innerlich gespalten, zwischen eigenem Anspruch und eigenem Begehren, da

  • er heute vielleicht doch keine Lust auf die Milonga hat, auf die er sich schon die ganze Woche gefreut hat,
  • er auf die suchenden Blicke dieser Tanguera vielleicht doch nicht reagieren sollte, da er so vielleicht eine Bessere verpasst,
  • er diese Figur besser nicht getanzt hätte,
  • er gelangweilt zur Tanguera rübergeht, damit sie nicht erkennt, wie ihm sein Herz vor Aufregung pocht,
  • sie sich nicht zu den Anderen an den Rand der Pista setzt, um sich von denen abzusetzen,
  • sie diese adorno (Verzierung) schon wieder nicht kosequent ausgeschmückt hat.

Auch in der Tanda bringt sich ein Tanguer als begehrend hervor.

Diese Corrida (eine kleine Anzahl schnell gelaufener Schritte), dieser Lapiz (mit der Fußspitze des Spielbeins eine Verzierung auf die Tanzfläche malen) sollen graziös sein, anmutig. Und wenn diesem Anspruch die Wirklichkeit nicht folgt, so bleibt das zugrundeliegende Begehren unbefriedigt – nie kann es abschließend gelingen, es kann sich nur annähern, denn mit jedem Erreichten, werden Begehren und Anspruch verschoben und nur noch größer.

Begehren gibt es nur als unerreicht!

Ein Tanguer begehrt dort zu sein, wo es war (sein Begehren verschwindet) – beim Geniessen des Tango (Was natürlich auch gelingen kann!)

Das $ symbolisiert einen verschwindenden Tanguer

Descartes: „Ich denke, also bin ich.“

Lacan: „Da wo ich bin, denke ich nicht, und da wo ich denke, bin ich nicht“ oder „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“

Entweder bin ich das, was ich über mich Aussagen kann, oder ich bin nicht mit dem identisch, was ich über mich aussage und aussagen kann, denn „Wer ist der, der das sagt, was er aussagt?“

Entweder ein Tanguero ist das Was und Wie er tanzt – was einem Standardtänzer entsprechen würde – perfekt; exakt und objektiv bewertbar – aber nie zu einem befriedigenden Ende kommend.

  • „Ich denke, das du denkst, das ich denke, das du denkst!“ (Laing, 1971, 1994)

Oder “ … es ist mir völlig egal, mit him entsteht, was ich beim Tango suche!“ Oder die Regeln und Techniken sind kein Selbstzweck, verschwinden hinter der Musik und dienen, das Gefühl zu tragen.

Beide, die Tanguera und der Tanguero zeigen sich in ihrer Umarmung, den Schritten und Figuren; sowohl einander als auch dem Publikum, repräsentieren den Stil des Tango Agentino, Interpretieren die Musik eines Carlos di Sarli (Tango lessons) oder Osvaldo Pugliese (mit Jorge Mariel),

aber was sie verbindet, was sie teilen und geniessen, ist darin nicht präsent, ist nicht zu sehen, verschwindet aus der äusseren Betrachtung und ist – bestenfalls, wenn es gelingt – auch den Tanzenden nicht bewußt.

  • eine verstörende Erfahrung der Nähe, diese Aphanisis des Subjektes.

Und wenn dies geschieht, dann schleichen sich beide, nach der Tanda, von der Bühne, noch warm von ihrer Nähe, die sie hatten und jetzt erst – als gewesen – wahrnehmen.

Da wo sie waren, da haben sie nicht gedacht ($) – jetzt, da sie denken, erleben sie wohlige Zufriedenheit!

(Quellen: 2)

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Ein Tanguer ist jemand, der auf dem Weg von dem Bedeutsamen am Tango zum Lebendigen der Tanda ist, und einer, dem es dabei gleichgültig wird, ob er sich dabei auf die Konvention der Position des Tanguero oder der einer Tanguera kapriziert, und der selbst in der Position des Tanguero anerkennt, allein durch die Schritte der Tanguera beim Lebendigen der Tanda anzukommen, und die selbst in der Position der Tanguera hinnimmt, allein durch die Schritte des Tanguero als in das Lebendige gleitend zu sein und einer, der nicht vorgibt zu sein, was er nicht ist, gleichgültig wir gut er eine Tanda stolpert.

(Quelle 2: Dylan E. (2002). Wörterbuch der Lacan’schen Psychoanalyse. Subjekt, S. 291ff. Wien: Turin & Kant. https://www.turia.at/titel/evans_s.php; https://lacan-entziffern.de/subjekt/das-subjekt/; https://lacan-entziffern.de/subjekt/gespaltenes-subjekt/; https://lacan-entziffern.de/subjekt/die-wahrheit-des-subjekts/; https://lacan-entziffern.de/subjekt/das-verschwinden-des-subjekts/; Laing, R.D., Phillipson H. & Russell Lee, A. (1971). Interpersonelle Wahrnehmung. Frankfurt a.M. edition suhrkamp; Laing, R.D. (1994). Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Köln: Kiepenheuer & Witsch)