Frankie Goes to Hollywood (Is anybody out there)
i(a) Ideal-Ich/Quelle der Wahl
Berlin, Arnheim oder Strassburg. Allein, unbekannt, ohne jemand Bekannten, auf irgendeiner Milonga. Der Eintritt ist bezahlt, die Schuhe passen, Stühle sind um die Pista gestellt, teils besetzt, teils noch frei. Paare sitzen nebeneinander, eine Gruppe ist vergnügt und einige tanzen …
„Die Tanda ist schon mal richtig gut!“
„Wie gut wird hier getanzt?“
Man blickt umher, jemand erkennt jemanden als bekannt, andere erblicken sich flüchtig und sehen sogleich wieder woanders hin, jemand geht auf jemand zu und wird freundlich aufgenommen, obwohl …
„Sie ist ein wenig zu früh aufgestanden“. „Gutes Gefühl hier – schöne Frauen, gute Tänzer!“
Ein Gefühl des Wahrgenommenwerdens steigt auf. – (Das Herz schlägt schneller)
„Schon recht gut, wie hier getanzt wird!“ „Ah, die da drüben … nee, die lieber nicht!“
Die Tanda endet.
„Die da tanzen richtig gut zusammen – sie hat einen schönen Stil!“ – (Das Herz pocht)
Die Tanda ist zuende
„Sie schaut zum mir!“
Sie lächelt
„Sie nickt mir zu!“
Die drei Ichinstanzen, die hier wirken sind
- das Ich (m), das sich „allein“ auf der Milonga findet, das das, was es sieht, für den hält, die er ist – ein „allein auf der Milonga befindlicher Tanguero, Eintritt bezahlt, Schuhe passend, auf einem der Stühle um die Pista sitzend … mit einem guten Gefühl, aber mit leichter Angst des Herzens“,
- das Ideal-Ich (i(a)), als ein Ich, das sich mit einem Vor-Bild „schöne Frauen, gute Tänzer, nee, lieber nicht, schöner Stil“ – vergleicht, an dem er sein Bild von sich bemisst (etwa so: „Die Schönen gefallen mir!“; „Die da drüben … nee, die ist mir zu alt!“, „Die guten Tänzer … mit denen kann ich mithalten!“; „Der schöne Stil … könnte gut zu mir passen!“)
- das Ich-Ideal (I(A)), als dasjenige, für das das Ich den Vergleich durchführt, dem es gerecht werden möchte, für das er „mithalten“ will, zu dem er „passen möchte“, und das etwas sagen kann, ein Urteil darüber spricht, ein Urteil an das man glaubt, dem man Glauben schenkt, und zwar, „dass ich mit Ihm mithalten kann, dass sie zu alt für mich ist, dass ich zu ihrem Stil passend wäre“. Vielleicht der innere Standard, der bestimmt, wann man ein angenommer, anerkennenswerter und begehrenswerter Tanguero wäre. Ein angestrebter Zustand mit gutem Gefühl und möglichst ohne Angst.
„Und dann kommt sie auf mich zu … und geht an mir vorbei!“
Und nun?
Tango – Vor-Stellungen
Ein Tanguer, der mit dem Tango beginnt, oder ein Tanguer, der eine Tanda beginnt, tut dies in der Vorstellung „eines Bildes von sich“
- „Was wird das los sein, wie werde ich mich fühlen, was wird geschehen, was wird Sie/Er/jemand/man/ Giesela/Ullrich/… von mir erwarten, von mir wollen?
- Das Ich und seine Bilder – imaginär – sind zwei in einem – ein sich Vorstellendes und ein Vorgestelltes zugleich – wie siamesische Zwillinge.
Anfänger und Fortgeschrittene, beide beginnen in einer Vorstellung, daß dieser, mein Körper funktioniert, so funktioniert, wie ich es erwarte, d.h im meinem Warten auf sein funktionieren mir vorstelle; mir innerlich dieses Bild vor mich hin stellt – als Orientierung, als Rahmen; möglichst frei von Zweifel, Unsicherheit und Angst und möglichst volle von Zuversicht, Vertrauen und Stolz.
„Machen Sie bitte einen Schritt nach vorn“ … und ich machen einen Schritt … so einfach ist das!
„Jedes Mal, wenn ich eine Tanda beginne, läuft es wirklich gut!“
Doch dann sehe ich das Video meiner Schritte, meiner Tanda.
Mein Schritt gelingt, doch der Rest ist ein statisches Bild von Hüfte und Bauch nach vorne gestreckt, Rücken weit nach hinten, Kopf gesenkt – schlaff!
Die wirklich gut beginnende Tanda bricht zusammen, sobald sich in der ersten Drehung das Hüftgelenk nach aussen verschiebt, und die eigene Achse verloren geht.
- Das kann ein schreckliches Erlebnis sein!
Mein Bild von mir ist schön, selbst wenn mein realer Körpers nur durch das Zusammenwirken von Muskeln, Bändern und Knochen bedingt ist, eine Zusammen-Stellung, ge-bildete „Montage“ meiner Körperlichkeit.
- „Das liegt an fehlendem Können und fehlender Erfahrung!“ – sicher; trivial, geschenkt – Üben ist relevant!
Oder liegt es an der Haltung,
- als Art und Weise, besonders beim Stehen, Gehen oder Sitzen, den Körper, besonders das Rückgrat, zu halten (als erworbene Körperhaltung, über Erlerntes hinausgehend), und oder
- als innere, durch irgendetwas gebildete Vorstellungskraft und Denkweise, die unseren Handlungen, Zielsetzungen, Äusserungsformen und Urteilen zugrunde liegt (als Grundhaltung, die kaum mit Übung korreliert; das Tanguer in uns … vielleicht)
Jeder beginnt den Tango Agentino mit Bildern, Musik, Filmen, Videos und Erzählungen vom Tango Argentino, oder Beobachtungen auf besuchten Milongas – und von da-heraus, mit einem Wunsch; einem Begehren, wie Lacan es nennen würde.
Der Wunsch kommt aus einem Vergleich heraus, bestehend aus einem Bild von Sich-Selbst, meinem Körperbild und einem Bild von einem Ideal eines Körpers, dort in den Videos, der gehörten Musik, den Erzählungen und den Beobachtungen des Tango – einem vorgestellten Bild, das durch andere Individuen, einem anderen Sein im Tango ver-körpert, körperlich vorgelebt wird, an dem man selber teilhaben, zum dem man gehören, das man sein möchte
Das Ideal, das ich anstrebe, in mir trage und somit sein möchte – das Ideal-Ich, ein Imaginäres in mir, mein Image, meine Dar-Stellung, die ich mir gebe, mit der ich Ansehen und Geltung zu erlangen suche.
- Und dabei kann ich mir nicht aussuchen, ob ich das will oder nicht – ich kann nicht darauf verzichten – nur ein anderes Prestige, eine andere Rolle wählen – selbst, wenn ich vermeintlich nicht wähle.
Mit Lacan: Das Ich steht zum Ideal-Ich in einer ambivalenten Beziehung: es eifert ihm nach und es richtet gegen dieses Vorbild seine Aggressivität – eine Aggressivität, die manchmal tödlich ist.
- Schließlich sind alle Vorbilder – vor-gestellte Bilder -, an Orten, an denen nicht bin, noch nicht ich bin, sondern meine Vorstellung, mein Ort, den ich begehre – Und daher muss der Andere „da weg!“
- „Dort wo es war, soll ich werden“ – zur Geltung kommen!
Schließlich üben wir alle Tango, um stets besser, ausdrucksstärker, intensiver usw. usf. zu werden, ein Begehren, dort anzukommen wo wir uns vor-stellen, ein Begehren nach Mehr-Geniessen!
… und geht an mir vorbei!“
Das Ideal, mit dem sich ein Tanguer vergleicht, an dem er sich misst, gehört ihm nicht, es ist ihm als Vorstellung vorgestellt, es wurde ihm vorgestellt, jemand hat es vor ihn gestellt. Und es ist nur von daher ein Ideal für das Ich, da der Tanguer vermutet, dass wenn es dieses Ideal an-nimmt, es sich aneignet, es diesem idealen Ich (dieser Rolle und dem Prestige) entspricht – sich damit identifiziert – es, in seiner Rolle als Tanguera oder Tanguero, für einen Anderen begehrenswert ist.
Dieses Begehren ist das Begehren des Anderen – meint Lacan.
… und dieses Begehren des Anderen kann vorbeigehen, „Nein“ sagen!
Wie kann das sein, wo sie doch genickt hat – genickt zu mir – die von den Schönen hier, mit dem schönen Stil, die mir mein Herz pochen machte?
Die Milonga in Berlin, Arnheim, Strassburg ist mir unbekannt, jede Milonga ist zuerst unbekannt und ich mache sie mir bekannt, vertraut mit ihr.
Das Ich (moi) sieht, so wie es eben funktioniert, Stühle, Gruppen von Tänzern, Paare und schon mal richtig gute Tandas … – es befragt damit letztlich die Milonga („Wie gut wird hier getanzt?“) und es resümiert, ordnet sich ein und weiß was/wer es ist erst über sein Verhältnis zu, über seinen Abgleich mit Anderen.
Das Ich (i(a)) ist Teil seiner Frage, als Vor-Bild für seine Befragung der Milonga, das, was in seiner Befragung das „vergnügt“, „richtig gut“, „erkennt jemanden als bekannt“, „freundlich aufgenommen“, „ein wenig zu früh“, „gutes Gefühl“, „schöne Frauen“ ausmacht.
Eine grundlegende Projektion eines inneren Bildes (i(a)) nach draußen, mehr noch, ein Erkennen des inneren Bildes erst da draußen, in und mit dem Erkennen des Anderen – „Wie gut (i(a)) wird hier getanzt (a)?“
Und fällt das Verhältnis, der Vergleich von i zu/mit a günstig aus, so meldet sich der Körper (moi) und spricht „Gutes Gefühl hier …“, ordnet sich wohlwollen in de Milonga ein „… schöne Frauen, gute Tänzer!“ – hat sein Verhältnis in einer Rolle, einem Prestige, einem Ich-Ideal gefunden „… nee, die lieber nicht!“, „Die da … hat einen schönen Stil“ – und es geht weiter „Sie schaut … sie nickt mir zu!“
Und fällt das Verhältnis schlecht aus, ist sie „ein wenig zu früh aufgestanden“, ist „die da drüben zu alt …“ und von daher „die lieber nicht!“, dann mag es zwar schade sein – für die Anderen – aber es ist auch alles bester Ordnung.
Droht ein Verhältnis aber zu zerbrechen, eine Lücke zwischen i und a aufzuklaffen, dann „pocht das Herz“, der Körper meldet sich.
Und, geht sie „an mir vorbei“, dann ist das Verhältnis i(a) zerschlagen und hinterlässt einen Riss, eine klaffende Wunde, Sprachlosigkeit.
- Das körperliche Ich (moi) setzt für einen Moment aus, bedarf einer erneuten „Orientierungsreaktion„, einer Reparatur des Ich-Ideals, eine erneute Einordnung in das spiegelbildiche Verhältnis von mir und ihr.
Und geht sie an mir vor bei, so werde ich in meiner Existenz nihiliert/annihiliert – zu nichte gemacht -, wenn auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde, da eine Orientrierungsreaktion dankenswerter Weise nur etwa 300ms (P3a) benötigt und daher unter der Wahrnehmungsschwelle bleibt
Aber der Reparaturaufwand kann erheblich sein.
Die von mir als Schöne da draußen, mit dem schönen Stil Erkannte, ist nicht nur mit meinen idealen Bild des Anderen (i(a)) behaftet, Sie ist zugleich auch „ein Versprechen“, manchmal auch eine „Verheißung“ gewesen, ein eine Prophezeiung, von der ich annehme, sie möge sich erfüllen, bestenfalls wie von selbst.
Und wenn ich so enttäuscht bin, dann war es eine Täuschung, ein Risiko jeder Identifikation eines Anderen als gut, schön, angenehm, zu alt zu schlecht tanzend und all den entsprechenden Begriffen, die mit der Wahrnehmung des Anderen, diesem Schein anhaften – die aber lediglich das repräsentieren, was wie der Andere uns er-scheint, womit wir ihn behaftet haben, um ihn als so wahrnehmen zu können, wie er uns erscheint.
Unsere Wahrnehmung des Anderen ist immer schon unsere Vorstellung, unser Bild, die Projektion eines Wunsches, das Luftschloss, eine Phantasie – unser inter-esse.
(Quellen: https://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/ich-idealich-ichideal/; https://lacan-entziffern.de/ich/graf-des-begehrens-idealich-spezialistisch/; https://lacan-entziffern.de/idealich/coupe-und-kp/)